Tag 9 Ab- / Heimfahrt


Donnerstag, 04.05.2006 / Stüdlhütte / Abfahrt zum Lucknerhaus / Heimfahrt nach Titisee

Es ist ein tolles Gefühl, noch im warmen Bett zu liegen, während die Anderen früh aufstehen, um zum Gipfel zu ziehen, den man selbst schon quasi 'in der Tasche' hat. Habe heute Morgen nicht gefrühstückt, sondern bin gleich abgefahren. Habe die Abfahrt, im wahrsten Sinne des Wortes, als hart empfunden. Mein Rücken schmerzt - der Rucksack war einfach schwer. Am Lucknerhaus zurück, sitze ich jetzt in meinem Auto und schreibe gerade Tagebuch, als ein Hubschrauber Richtung Großglockner fliegt. Ob etwas passiert ist - ich weiß es nicht? Die Nebel ziehen langsam herab - immer mehr. Lange ist es kein so guter Tag wie gestern, obwohl alle auf der Hütte das Gegenteil voraussagten. Gerade kommt ein Bergsteiger zurück. Ich mache noch ein paar Bilder mit dem Weitwinkel - dann kommen wir ins Gespräch. Er erzählt, dass er heute am Leitl umkehrte und dass Leute abgestürzt sind. Dies - obwohl eine 30-köpfige Gruppe von Bundesheer-Soldaten heute den ganzen Berg versichert hat. Ich frage auch Andere, die zurück kommen. Sie sagen, dass einer ins Südcouloir, also in die Pillwaxrinne gestürzt ist. Ein Unfalltag? Auch dieser Berg fordert seine Opfer. Oft schon wurde ich, wenn in den Bergen unterwegs, mit dem Tod konfrontiert. Die jetzt zurück kommenden Bergsteiger und Gebirgsjäger machen alle einen sehr deprimierten Eindruck, was darauf schließen lässt, dass sie tatsächlich ihre Touren frühzeitig beendeten. Vielleicht aus persönlicher Betroffenheit, vielleicht aber auch Mitgefühl und Respekt für den Abgestürzten und seine Hinterbliebenen. Glück und Tod liegen hier auf des Messers Schneide. Der Berg verhüllt sich immer mehr im Nebel - auch er trauert wohl.

Als ich gegen 13.30 Uhr am Lucknerhaus aufbreche, fliegen sie gerade den Toten heraus. Schon um 12.00 Uhr - der Absturz war etwa gegen 11.00 Uhr - kommt die Nachricht halb-stündlich im Osttiroler Radio. Erst ist von einem noch nicht identifizierten Abgestürzten, später von einem toten, deutschen Bergsteiger die Rede. Der Absturz aus der Oberen Scharte in die, den Klein- vom Großglockner trennende Südrinne, etwa 500 Meter fast senkrecht in die Tiefe, ist, wie die Bergrettung erklärt, nicht zu überleben. Gleich einem freien Fall aus der Wand schlägt der Abstürzende immer wieder 'ping-pong-artig' an den Felsen auf, bis er im Lawinenkegel unten am Wandfuß ankommt. Der Schwiegersohn, heißt es, hätte verzweifelt am vereinbarten Treffpunkt gewartet - aber vergebens. Dies wirft für mich viele ungeklärte Fragen auf. Die wohl Entscheidende: Warum haben sie im Abstieg nicht gesichert - insbesondere an der Oberen Scharte? Warum trennten sie sich noch vor der bekannt absturzgefährdeten Schlüsselstelle? Warum ließ der viel jüngere Schwiegersohn seinen viel älteren 72-jährigen Schwiegervater alleine zurück? Also Fragen über Fragen. Und von außen nicht zu beantworten. Einfach unerklärbar. Hinzu kommt, dass wenn sie um 11.00 Uhr bzw. vor 11.00 Uhr schon wieder absteigen, sie früh auch sehr schnell aufgestiegen sein müssen. Dann der Gipfel - der Erfolg - die Freude. Im Abstieg eine kleine Unkonzentriertheit oder Unwissenheit, wie zum Beispiel die stollenden Steigeisen. So ungesichert in die Scharte - und schon ist's passiert. Dann geht alles blitzschnell. Du kannst nur noch, wenn überhaupt, mit deinen Instinkten und deinem Kopf fühlen und vielleicht reagieren. Du weißt - jetzt kommt das Ende. Unausweichlich.

Dann machte ich mich auf die Heimfahrt. In Innsbruck verfuhr ich mich auch noch Richtung Stubaital / Brenner, was Mautgebühr und Zeit kostete. Die Durchsagen im Radio vom Schwiegersohn und dem toten 72-jährigen Schwiegervater beschäftigen mich. Ich erinnere mich jetzt, dass am Abend auf der Hütte ein sehr fröhlicher, gut gelaunter, oft lächelnder, alter Mann mir schräg gegenüber am Tisch saß. Ich dachte noch, der macht bestimmt eine Hüttentour. Ein jüngerer Mann war neben ihm und sie duzten sich. Der Jüngere bot dem Älteren Käse an. Später sagte er noch, er wolle hinausgehen und den Sonnenuntergang sehen. Es war sein letzter. Ich bin ganz sicher, jetzt im Nachhinein, dass es sich um die 'Unglückseilschaft' handelte. Ich saß also mit dem tödlich Verunglückten auf der Stüdlhütte noch am Abend zuvor zusammen am Tisch zum Abendbrot. Allerdings war ich, vom Gipfel kommend, so erschöpft, dass ich nichts redete. Aber ich lächelte zurück, wenn er lächelte. Also die ganze Heimfahrt über beschäftigt mich dieser Mann - dass er es ist und ich ihn kenne. Es kommen ganz elementare Fragen in mir hoch. Warum er? Hat der Berg ihn als Opfer auser-wählt? Ist er sozusagen auch für andere / gar für mich gestorben? War er vielleicht Jesus? War er vielleicht, so wie Jesus es auch war, bereit, sein Leben zu geben? Hat er vielleicht selbst zum Schwiegersohn gesagt - Geh nur - lass mich ruhig - ich komme schon nach? War das Gefühl, auf dem Gipfel sitzen bleiben zu wollen - ewig - mit im Spiel? Wenn ja, würde es dem ganzen einen tiefen Sinn geben. Bei meiner Rückfahrt habe ich viel über diese Traurigkeit - auch im positiven Sinne - nachgedacht und auch geweint. Denken und Weinen - und traurige Musik hören - als Gebet für ihn. Keine Worte. Als die Sonne überm Alpsteinmassiv untergeht, taucht sich der, mit schwarzen Wolken durchzogene Himmel, in ein feuriges, sanftes Rot. Venus und Mira tauchen auf. Ein wunderbares Zeichen, das mir mitteilen will: "Ich bin dort. Ich bin geborgen. Zwar abgestürzt - aber hineingefallen in Gottes Hand. Es geht mir gut. Macht euch keine Sorgen". Diese Gedanken tun auch mir jetzt gut. Jetzt kann ich das, was heute geschehen ist, gut annehmen. Auch Michaels Todeslied 'Seasons in the sun' läuft gerade im Radio. Noch ein Zeichen - und ein sehr tiefgehender, trauriger, aber wahrer Text. Ansonsten problemlose Rückfahrt und Ankunft in Titisee gegen 23.00 Uhr. Der Tacho zeigt 1800 gefahrene Kilometer. Nettes Wiedersehen mit Roswitha. Der Stein hat ihr gefallen - ich war doch etwas überrascht. Sie sagte: "Er ist schön". Wie gut, dass ich den Kitsch in Cortina d'Ampezzo gelassen habe. Ich sichere noch die Bilder - dann gehe ich zu Bett.

                                                                                                                                                                               8  Tag 9  Review