"So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen: denn als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt. … Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hat, zeigte mir niemand, was ich zu tun hätte, sondern der Höchste selbst hat mir geoffenbart, dass ich nach der Vorschrift des heiligen Evangeliums leben sollte. Und ich habe es mit wenigen Worten und in Einfalt schreiben lassen, und der Herr Papst hat es mir bestätigt. Und jene, die kamen, dies Leben anzunehmen, gaben „alles, was sie haben mochten“ (Tob 1,3), den Armen. Und sie waren zufrieden mit einem Habit, innen und außen geflickt, d.h. durch aufgenähte Stoffstücke verstärkt und dadurch wärmender gemacht, samt Gürtelstrick und Hosen. Und mehr wollen wir nicht haben. … Hüten sollen sich die Brüder, dass sie Kirchen, ärmliche Wohnungen und alles, was für sie gebaut wird, keinesfalls annehmen, wenn sie nicht sind, wie es der heiligen Armut gemäß ist, die wir in der Regel versprochen haben; sie sollen dort immer herbergen wie Pilger und Fremdlinge (vgl. 1Petr 2,11). Ich befehle streng im Gehorsam allen Brüdern, wo immer sie auch sind, dass sie nicht wagen sollen, irgendeinen Brief bei der römischen Kurie zu erbitten, weder durch sich noch durch eine Mittelsperson, weder für eine Kirche noch wegen irgendeines Ortes, weder unter dem Vorwand der Predigt noch wegen leiblicher Verfolgung; sondern, wo immer man sie nicht aufnimmt, sollen sie in ein anderes Land fliehen, um mit dem Segen Gottes Buße zu tun. … Und die Brüder sollen nicht sagen: Dies ist eine andere Regel; denn dies ist eine Erinnerung, Ermahnung, Aufmunterung und mein Testament, das ich, der ganz kleine Bruder Franziskus, euch, meinen gebenedeiten Brüdern, aus dem Grunde mache, damit wir die Regel, die wir dem Herrn versprochen haben, besser katholisch beobachten. Und der Generalminister und alle anderen Minister und Kustoden seien im Gehorsam gehalten, zu diesen Worten nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen."
Textquelle: Franz von Assisi, Legenden und Laude, übersetzt von Otto Karrer, 4. Auflage, Manesse Verlag 1990
Franz von Assisi erfuhr eine Bekehrung. Jetzt an seinem Lebensende, in der Rückschau auf sein gelebtes Leben, macht er nochmal auf dieses entscheidende, sein gesamtes Leben veränderndes Bekehrungsereignis, aufmerksam. Zuvor hatte er Abscheu – „es kam mir bitter vor“ – soziale Not und menschliches Elend wahrzunehmen, geschweige denn sich einzubringen und zu helfen. Jetzt ist er dem Herrn dankbar. Denn er hat ihn zu diesen Bedürftigen geführt und er hat dem Vorbild Jesu Christi entsprechend und in seiner Nachfolge stehend, barmherzig gehandelt. Diese Sichtweise, sein Erkennen und in der Folge sein bescheidenes und gutes Handeln wurde ihm von Gott geschenkt. Er fand Gefallen an diesen guten Werken – sein Leben wurde in der Christusnachfolge mit Sinn erfüllt. Das was ihm „bitter“ vorkam, wurde „süss“ verwandelt. Auch war Franz aus vermögendem Haus und entschied sich in aller Freiheit für die Nachfolge des Herrn in Armut. Wie kein anderer lebte er seinen Glauben – Worte und Taten waren stimmig. Dieses neue Denken und Handeln fand in sehr kurzer Zeit sehr viele Anhänger, die mit Franziskus lebten und von Stadt zu Stadt wanderten. In Betrachtung und Gebet wies ihm Gott den Weg, er solle nach den Weisungen des heiligen Evangeliums leben. Franziskus schrieb daraufhin in wenigen Worten seine Ordensregel, welche ihm vom damaligen Papst bestätigt wurde. Kein weltlicher Besitz, kein Kloster, keine Reichtümer, kein Vorrat – Franziskus nahm das Evangelium wörtlich. Deswegen wird es dennoch zum Leben reichen, denn alles wird euch von Gott geschenkt werden. Seid also bescheiden und lebt in Armut! Denn wie der Herr jeden Tag den Tieren in der Natur zu fressen gibt, so wird er auch seinen „Knechten“ Gutes tun, sie mit seinen Gaben beschenken und lieben. Der Habit reicht. Mehr brauchen und wollen wir nicht. Auch keinen zweiten Habit, z.B. als Vorsorge. Seine Brüder sollen nach seinem Tod auch nicht der Versuchung verfallen, irgendwelche Besitztümer z.B. Kirchen, Gebäude, Wohnungen etc. anzunehmen, sondern sie sollen sich dort einfinden, wie Pilger bzw. Fremdlinge. Denn – Besitz belastet und bindet, Besitzlosigkeit macht wahrhaft frei – frei für Gottes Worte und Taten. Franz verbietet seinen Mitbrüdern irgendeinen Brief bei der römischen Kurie zu erbitten. Das heißt, dass seine Regel feststeht und er wünscht und erwartet, dass dem so entsprochen wird.
Die Armutsbewegung war eine europäische Bewegung des 12. Und 13. Jahrhunderts. Die Städte wuchsen, der Handel blühte auf, vor allem der fernöstliche Handel. Kaufleute und Händler wurden schnell und plötzlich reich, manchmal empfanden sie selbst dies sogar als ungerecht. Gegenüber diesen „Neureichen“ wurden aber sehr viele Menschen arm. Der Klerus selbst und die Amtskirche in Rom waren mächtig, besitzend und reich – entgegen den Forderungen im Evangelium. Schlüsselzitat: „Wenn du vollkommen sein willst, verkauf deinen Besitz, gib das Geld den Armen – und dann komm, und folge mir nach!“ Dies führte bei Franziskus zu der Erkenntnis, dass das Evangelium nicht gelebt wird. So nährte sich die Armutsbewegung aus Menschen, die oft jung, (neu-) reich und oft auch gebildet (Intellektuelle) waren und die mit ihrem Vorbild Franz gemeinsam ein neues, besseres Vorbild der Nachfolge Christi bekennen und durch ihr armes Leben bezeugen und dokumentieren wollten. So zeichnete sich die Armutsbewegung durch ihre Konsequenz und ihre Radikalität in der Christusnachfolge aus. Bruder Franz, selbst aus wohlhabendem Haus, warf deshalb seinem Vater die Kleider hin und stand so nackt vor ihm.
Auch führte die Bewegung dazu, dass die Christusnachfolge nicht nur eine Aufgabe und Sache für den Klerus war, sondern dass jeder Mann und jede Frau ab sofort zur Christusnachfolge in Armut berufen sei. Also nicht das Privileg des Klerus, sondern der Tataufruf an alle. Deshalb entstand auch in der Bevölkerung allgemein ein grosses Bedürfnis, die heiligen Schriften, insbesondere das Evangelium kennenlernen, bzw. selbst studieren zu wollen, um eben selbst zu wissen, was dieser Christus gesagt und getan hat. In kurzer Zeit entstand so eine grosse Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sog. Bettelorden, die miteinander in Armut lebten. Gleichzeitig entstanden auch die Klarissen und die Dominikaner. Als Wanderprediger zogen sie von Stadt zu Stadt. Sie hatten keinen festen Wohnsitz, so wie es bislang üblich war wie beispielsweise in einem Kloster. Deshalb auch die grosse Liebe zu Gottes Schöpfung und der Natur, die sich im Sonnengesang des Franziskus ausdrückt. Die Worte in seinem Testament lassen keinen Zweifel, dass er nicht nur zu dieser, von ihm gegründeten Bewegung steht, sondern er erhebt den Anspruch, nach bestem Wissen und Gewissen, Christus in Armut nachzufolgen. Evangelium und menschliches Handeln müssen übereinstimmen. Beim Klerus ist dies nicht der Fall, deshalb orientieren wir uns anders. Aufgeschrieben ist alles in meiner Regel, an der keiner – genauso wie am Evangelium – etwas wegnehmen bzw. hinzufügen soll.
Ein Leben nach den strengen Regeln von Bruder Franz ist heute undenkbar. Es geht ja nicht darum, das Evangelium wörtlich zu verstehen und nachzuleben, sondern den Sinn- und Wahrheitsgehalt der Botschaft zu erfassen und diese in die jeweilige, aktuelle Zeit hinein auszulegen. Beispielsweise hat Christus auf jegliche Art von Gewalt verzichtet und trotzdem ist es heute gut, mitzuwirken, dass demokratische Staatsformen entstehen, auch wenn hier eine gesetzgebende und richterliche Gewalten präsent sind. Die Bewegung, die Bruder Franz ins Leben rief, existiert ja nach fast 800 Jahren heute noch. Allerdings mussten sich die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft auch immer wieder den aktuellen Gegebenheiten, beispielweise den Erkenntnissen der Wissenschaften oder der Exegese anpassen. Das heißt aber nicht, dass die Grundidee verloren ging, im Gegenteil ist sie noch sehr lebendig. Wesentlich darin, dass wir Solidarität und Toleranz üben mit den Armen, uns in sie hineinfühlen und ihnen versuchen zu helfen. Auch ist es wichtig, die verschiedenen Ebenen von Armut (z.B. physische- / psychische-, Armut an Kreativität, Ideen etc.) zu erkennen, oft auch vor der eigenen Haustür oder dahinter. Reflexion des persönlichen Lebens, Gebet, Hören auf Gott und wie Franz getan, seinem Gewissen folgend, mal mit-, mal gegen den Strom des Lebens schwimmen, ist heute aktuell, genauso wie damals. Solches Leben wird auch heute, auch in einer grösseren Gruppe gelingen. Ich kann mir die sehr gut vorstellen.