"Gleich darauf forderte Jesus die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg. Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See. Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! 28 Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme. Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu. Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn." Textquelle: Das Neue Testament - Einheitsübersetzung
Die Erzählung von Jesu Seewandel in Mk 6,45-52 wird bei Mt durch die Petrus-Episode erweitert. Der Seewandel des Petrus ist als Entsprechung zum Seewandel Jesu auf der Basis der Jünger-Nachfolge zu verstehen. Nicht weil die Situation dafür günstig war, sondern weil Jesu Wort ihn rief, wagte Petrus den Schritt aus dem bergenden Boot – und er erlebte, daß scheinbar Unmögliches möglich wurde. Im festen Blick auf Jesus ging der Jünger über das Wasser wie sein Meister. Erst als er auf den Wind achtete – d.h. es galt für Petrus nicht mehr nur Jesu Wort und Jesu Nähe, sondern er hatte auch wieder einen Blick für seine ganz konkrete Situation – fürchtete er sich und begann sogleich zu sinken, so dass er rufen mußte: „Herr, rette mich!“. Jesus streckte ihm sofort die rettende Hand entgegen, nicht ohne ihm seinen Kleinglauben vorzuhalten. Doch Petrus hätte auch anders reagieren können. Er hätte in dem Augenblick, in dem er zu sinken begann, sich ebenfalls mit vollem Recht sagen können: „Das hätte ich mir schließlich denken können. Es ist einfach unmöglich, auf dem Wasser zu gehen – daran ändert auch Jesu Wort nichts.“ Und so hätte er sich selbst bewiesen, dass diejenigen Recht haben, die sich mit dem Möglichen begnügen. Dieses Stück ist symbolhaltig. Am Beispiel des Petrus, der dem Überlieferungskreis des Mt besonders nahe stand, wird das Vermögen und das Versagen des Jüngers[1] deutlich. Beides war ja schon aus der Geschichte der urchristlichen Gemeinde vielfältig zu belegen, so dass Mt mit dieser Episode eine ernste Mahnung an die Kirche seiner Zeit verbindet. Sie läßt es oft genug an festem Glauben fehlen, wenn sie mehr als auf das Wort Jesu als tragende Grundlage ihres Wirkens auf die ihr entgegenstehenden Widrigkeiten achtet und dadurch mutlos wird.
Dem Glaubenden gibt Jesus an seiner Macht Anteil, dem Zweifelnden und
Versinkenden reicht er helfend die Hand. Die Gemeinde soll damit zu einem zweifelsfreien Glauben und einem starken Vertrauen in Not ermutigt werden. Mt kam es vor allem darauf an, dass wir es
wagen, auf Grund dieses Glaubens jene Schritte zu tun, zu denen wir uns durch Jesu Wort gerufen
fühlen. Offensichtlich war ein derartiger Kleinglaube,
der sich stets mit seinen eigenen Erfahrungen rechtfertigen läßt, bereits für die Gemeinde des Mt eine Gefahr. Ihr Glaube besaß nicht mehr die Glut des ersten Anfangs. Er ist in der nüchternen
Erfahrung dessen, was Christsein im gewöhnlichen Alltag und Zusammenleben bedeutet, mancher Anfechtung unterworfen. Und so erzählte er ihnen dann die Geschichte von Jesu Seewandel auf seine
Weise. Vielleicht würden sie sich doch noch Jesu Wort zu Herzen nehmen: „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?". Er zeigte ihnen, dass diese Erfahrung zum echten Jüngerleben mit dazu
gehört. Selbst Petrus dem Felsen erging es so. Er zeigte ihnen aber auch, wo es Rettung aus dieser Not und Krisensituation gibt; nicht bei den Menschen, sondern beim Herrn. Er läßt auch den
Sinkenden nicht im Stich.
Jesus Christus können wir nur glaubend erfahren. Wir müssen ihm gegenüber offen und voll Vertrauen sein und zu unseren eigenen Fehlern und Schwächen stehen. Kein gläubiger Mensch kann zu keiner Zeit für sich die Möglichkeit ausschließen, in seinem Glauben schwach zu werden. Dies verdeutlicht gerade der Evangelist Mt am Beispiel des Apostels Petrus. Obwohl der erste unter den Aposteln in seiner Kleingläubigkeit keineswegs als beispielhaft gelten kann, so ist sein Verhalten doch exemplarisch und zeigt auf, dass kein gläubiger Mensch von vornherein für sich ausschließen darf, zumindest zeitweise den Glauben und damit den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Gläubige tut somit gut daran, die Gefährdungen des Glaubens nicht zu unterschätzen. Denn auch das Gottvertrauen ist, wie jedes menschliche Vertrauen überhaupt, Anfechtungen ausgesetzt, Zweifeln unterworfen und von Krisen bedroht. Somit ist der Glaube nie ein für allemal gegeben, sondern muß immer wieder neu eingeübt, gelebt und weitergegeben werden (z.B. im Gemeindeleben, der Familie, den pastoralen Diensten, der Katechese etc.).
Menschen können nur auf dem Weg des Vertrauens zueinander finden. Ohne
dieses Vertrauen – eine Art innerer Gewißheit – kann man auch in Jesus keinen sicheren Halt finden. Dies meint zuerst und vor allem das unerschütterliche Vertrauen zu Jesus Christus, in welchem Gott den Menschen nahekommt und der uns so wie wir sind – mit all unseren Stärken, aber vor allem auch
Schwächen – annimmt und akzeptiert. Dort, wo wir unsere Schwächen verstecken, stürzen wir uns in mörderische Aktivitäten, bringen das Kommunikative, das Offene in uns um. Dort, wo wir zu
unseren Schwächen stehen, ereignet sich Versöhnung mit uns selber. Jesusnachfolge heißt deshalb: mit seiner überraschenden Nähe rechnen, gerade auch im eigenen Schwachsein. So wird aus der
Nachfolge der ersten Begeisterung, die nur auf das eigene Können setzt, eine Nachfolge, die in die Gelassenheit führt und mit der Nähe Jesu rechnet.
[1] In dieser Szene, durch die Glaube und Zweifel illustriert werden, wird Petrus für die Gemeinde zu einem ‚Schulbeispiel‘, das man wahrscheinlich in der Katechese erzählte.
- aus Müller Paul-Gerhard: Stuttgarter Kleiner Kommentar – NT.