18 Die Hirtensorge

Theologische Arbeit im Fach Moraltheologie


Das Gleichnis von der Hirtensorge - Matthäusevangelium 18,12-14

"Was meint ihr? Wenn jemand hundert Schafe hat und eines von ihnen sich verirrt, läßt er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurück und sucht das Verirrte? Und wenn er es findet - Amen, ich sage euch: er freut sich über dieses eine mehr als über die neunundneunzig, die sich nicht verirrt haben. So will auch euer himmlischer Vater nicht, dass einer von diesen Kleinen verlorengeht." Textquelle: Das Neue Testament - Einheitsübersetzung


Ziele des Mt im Blick auf seine Gemeindesituation

Ein Bruder[1] als Glied der Gemeinde ist vom rechten Weg abgekommen und hat sich verirrt. Diese Erzählung vom verirrten Schaf in Mt 18,12-14 ist ein Gleichnis für die Hirtensorge der Gemeindemitglieder untereinander, miteinander und füreinander. Jeder ist angesprochen und zur Sorge für den in die Irre gegangen Mitbruder verpflichtet. Das heißt, dass jedes Glied der Gemeinde, das ja grundlegend ein geretteter Sünder ist und über das Gott sich freut, von Mt ermahnt bzw. verpflichtet wird, den irrenden Bruder nicht allein und fallen zu lassen, sondern nun auch wie der gute Hirte ihm nachzugehen und auf den rechten Weg zu bringen. Von den hundert Schafen lässt jemand – der Hirt[2] neunundneunzig in den Bergen zurück, um das Verirrte so lange zu suchen, bis er es gefunden hat. Gerade auch Jesus Christus macht sich immer wieder auf die Suche nach den Verirrten, den am Rande der Gesellschaft stehenden, den Gottlosen, den Verlassenen und den Sündern. In erster Linie ist er gesandt, sich dieser Menschen anzunehmen – er steht zweifelsfrei auf ihrer Seite[3]. Er ist gekommen, gerade das Verlorene aufzusuchen und zu retten[4].

Doch Mt will nicht einfach ‚nur‘ für den verlorengegangenen Sünder werben. Viele in seiner Gemeinde nehmen Anstoß, erheben sich als Falschpropheten[5] und führen andere („die Kleinen“) in der Gemeinde in die Irre. Diejenigen, die durch ihre ‚Verachtung der Kleinen‘ (V.10) bestimmten Menschen innerhalb der Gemeinde Anstoß gaben und sie daher für die Verführung durch Falschpropheten anfällig machten, sollten sich an Gottes Willen (V.14) erinnern. Das in die Irre geführte, umherirrende Schaf verlangt mehr Rücksicht als die neunundneunzig, die nicht in die Irre gegangen sind. Auch das kann ein Grund sein, auf christliche Freiheiten zu verzichten. Da das verirrte Schaf, wenn es sich nicht neu orientiert d.h. bekehrt, zugrunde gehen kann, muss ihm so schnell wie möglich geholfen werden. In jedem Fall muss es aufgesucht und möglichst wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Gelingt dies, so freut sich der Hirte über dieses eine mehr als über die neunundneunzig (V.13), die sich nicht verirrt haben. Beide sind ja einen besonderen, eventuell auch schmerzlichen, gemeinsamen Weg miteinander gegangen, der sie auch zukünftig enger verbinden wird. Die neunundneunzig Nicht-Verirrten werden nicht herabgesetzt. Sie haben ja bereits im Glauben erkannt und dürfen Gott danken. Sie werden sich gemeinsam mit Gott, dem nicht verlorengegangenen Schaf und dem Hirten freuen. Außerdem kann jedem der neunundneunzig schon bald auch die Rolle des Hirten zufallen.

Die Verantwortung füreinander heute in unserer Gemeinde im Sinne des Mt

Lassen wir Menschen, die sich heute verirren – z.B. Sektenangehörige, Alkoholkranke, Drogenabhängige, Prostituierte, Nichtsesshafte, Asylanten etc. – und die oft unfreiwillig in ihre mißliche Lage geraten sind, nicht einfach fallen? Gibt es unter uns nicht oft Vorurteile und Vorverurteilungen? Sind wir bereit, dem Nächsten zu vergeben und zu verzeihen oder ist unser Herz verhärtet? Ist es uns nicht eher gleichgültig und egal, wenn Mitmenschen sich vom Gottesdienst und vom Gemeindeleben abwenden? Ist denn immer ganz klar, daß nur die Anderen jene sind, die es zu suchen gilt? Kennt nicht jeder von uns auch Stationen aus seinem Leben, wo er sich verlassen und verloren fühlte? Und war es dann nicht wichtig, von einem verständnisvollen Mitmenschen – der mir zuhört / der mich so annimmt, wie ich bin / der auch meine ‚Macken‘ akzeptiert / der mir aus seiner Sicht versucht zu helfen / der versucht, mich zu verstehen – aufgefangen zu werden? Wer einmal eine solche Erfahrung gemacht hat, kann davon sein Leben bestimmen lassen. Er fühlt sich von Gott berührt und getragen, er sieht und erkennt die christliche Glaubenswahrheit und weiss, dass Gott unser Leben auch in seinen Dunkelheiten annimmt und ‚aushält‘.

Diese Art des liebevollen und helfenden Umgangs miteinander im Geiste Jesu Christi ist nur möglich, wenn wir miteinander versöhnt sind. Weil wir dies oft nicht sind, stehen wir allemal auch auf der Seite der Verirrten. Hierbei kommt es darauf an, dass wir zunächst in unserem Herzen und dann in unserem Umfeld Frieden und Versöhnung schaffen. Dies ist sehr schwer und nur bei gegenseitigem Verständnis, Entgegenkommen und Vergebungsbereitschaft möglich. Indem wir lernen, mit unseren Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten so umzugehen, dass wir uns gegenseitig wertschätzen, tolerieren und annehmen, kann so ein neues Klima des Vertrauens – in dem uns der Andere nicht mehr gleichgültig sein wird – entstehen.


[1] mit ‚Bruder‘ ist auch immer gleichzeitig die ‚Schwester‘ mitgemeint.

[2] mit Hirte ist hier bei Mt nicht wie bei den anderen Evangelisten Gott oder Jesus, sondern jeder an Christus glaubende und in seinem Geist lebende und handelnde Mensch seiner Gemeinde gemeint.

[3] vgl. Mt 9,13 / Lk 5,32 / Mk 2,17.

[4] vgl. Mt 18,11 / Lk 19,10.

[5] z.B. in Mt 24,11.