11 Gotteserfahrungen heute

Theologische Arbeit im Fach Dogmatik


Beispiele für die Erfahrbarkeit Gottes in unserer heutigen Zeit

Das Erfahrbarwerden Gottes in dieser Welt ist sehr eng an den persönlichen Glauben an Gott und an das Vertrauen in Gott gebunden. Schon in der Bibel wird immer wieder ausgedrückt, dass viele durch die Worte Jesu zum Glauben kamen. Was meist nicht zur Sprache kommt, was wir uns aber denken können, ist, dass durch seine Lehre vom Reich Gottes auch viele, vermutlich sogar sehr viele mehr zum Zweifeln und zum Unglauben kamen. Jesus selbst hat sich ja immer wieder sehr gefreut, wenn er an Gott und an die Wahrheit glaubenden Menschen begegnete. Dann erst konnten sich seine Kräfte wunderbar entfalten und im kranken Menschen Heilung bewirken. Allerdings musste auch er immer wieder zum Glauben an Gott aufrufen und ermahnen. Glauben können, in der Schöpfung den Schöpfer erfahren können, in Jesus von Nazareth den göttlichen Christus aber auch den Freund und Bruder sehen können, Gott in seiner Wesenshaftigkeit erahnen und erspüren können sind freilich alles reine Geschenke Gottes. In der von Gott erhaltenen Freiheit kann der Mensch eben glauben oder nicht. Um Gott in seinen Dimensionen und Geheimnissen erfahren zu können, um ihn zu spüren und als Kraftquelle zu erleben, ist es wichtig, sich möglichst mit allen Sinnen ihm gegenüber zu öffnen. Ich darf mich auch nach ihm sehnen, mich von ihm ergreifen lassen und seine Liebe erwarten und empfangen. Selbst wenn ich ihn – wie seine Jünger damals im Boot – zunächst nicht erfahre, oder gar seine Ferne spüre, ist er trotzdem da und um mich bemüht.

Das Geheimnis Gottes ist für uns konkret ahnbar, spürbar, erfahrbar, erkennbar ...

  • Dort, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind; z.B. Gottesdienst / Wallfahrt / Glaubensgespräch / vor allen Dingen aber im Gebet,
  • Durch die Natur; z.B. Bergwanderung / Tiere / Naturphänomene / Steine. So kann beispielsweise bis heute keine Art von Technik und keine Maschine ein Samenkorn oder eine Pflanze / Blume herstellen,
  • Durch den Kosmos; Sowohl im Bereich des Makro- als auch im Mikrokosmos werden der Wissenschaft trotz enormer Wissenszuwächse Grenzen gesetzt. Aus jeder beantworteten Frage ergeben sich dutzende neuer Fragen, die ihrerseits nach Klärung und Beantwortung drängen.
  • Durch das Aufleuchten Gottes im Antlitz eines Menschen; z.B. lachendes Kind / trauriges Kind / leidender Mensch / sterbender Mensch. Ich selbst habe in meinem Leben immer wieder Menschen erlebt, die sich im Prozess des Sterbens und im Angesicht des Todes zu ungeahnter menschlich-göttlicher Größe entwickeln konnten. Für mich ist es auch ein Phänomen, dass bei so vielen Menschen auf der ganzen Erde keiner dem anderen bzgl. seines Aussehens gleicht.
  • Durch ein gutes Gespräch mit einem Freund / einer Freundin; Ein Mensch, der mir zuhört, der mich so nimmt wie ich bin – auch mit meinen Schwächen, der mir Ansehen gibt – so wie auch Jesus seinen Gesprächspartnern Ansehen gab, der – auch in schwierigen Situationen – zu mir steht, dem ich vertrauen kann, der mich ernst nimmt. Als ich vor etwa fünf Jahren in eine schwere persönliche Lebenskrise stürzte, gab es nur noch drei Menschen, die in einem schmerzvollen aber befreienden Prozess bedingungslos zu mir hielten, meine Frau und meine beiden Söhne. Seither weiß ich, dass ich Würde und Ansehen nicht so sehr von den Menschen, als vielmehr von Gott erhalte.
  • Durch Menschen,
    • die (auch heute noch) bereit sind, ihr Leben für eine gute Sache – z.B. für die Freiheit ihres Glaubens oder für Andere – hinzugeben;
    • die versuchen Jesus Christus nachzufolgen und in seiner Liebe Gottes zu leben;
    • bei denen Worte und Taten kongruent sind (Menschen, die in der Wirklichkeit des Reiches Gottes leben);
    • die die Last der Selbstwerdung und Selbstrechtfertigung ganz Gott übergeben und deshalb im Umgang mit sich selbst und anderen eine neue Freiheit haben;
    •   die das Leben lieben und Lebensfreude ausstrahlen; die oft ein Gefühl von den Gaben bzw. den Früchten des Geistes vermitteln können.
  • Durch das Lesen in der hl. Schrift; Nicht alle, sondern jeweils „nur“ besondere und individuelle Stellen / Perikopen in den Texten berühren auf besondere und individuelle Art und Weise, sowohl im AT als auch im NT.
  • Durch die Gemeinschaft der Gemeinde; z.B. Erfahrungen in der Katechese / persönliche Dienst- und Liebeshandlungen an den Mitmenschen / Glaubenszeugnis und Glaubensbekenntnis anderer.
  • Durch mich; Mein Verhalten in den verschiedensten Rollen, wie ich rede und handle, was und wie ich etwas tue. Vorbild, Orientierung und Maßstab ist für mich Jesus Christus.
  • Durch die Messfeier; In Schriftlesung, Meditation, Gebet, Gesang, Stille lasse ich mich von Gottes Wort berühren und treffen. In den verwandelten Gaben von Brot und Wein empfange ich den Herrn.
  • Durch die übrigen Sakramente und deren Empfang;
  • Durch Leid, Schmerz, persönliche Niederlage, Demütigung, Lebenskrise; Menschen, die ihr persönliches Leid und Schicksal mit dem von Jesus Christus verbinden können, erhalten durch seinen Geist ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten. Sie werden nicht nur die Krise überwinden, sondern als neue Menschen gestärkt an Leib und Seele zu neuem Leben berufen.
  • Durch die Ausstrahlung und das Lebenszeugnis charismatischer Persönlichkeiten; (z.B. Johannes-Paul II / Charles de Foucauld / Mutter Theresa / Liliane Juchli / Antoine de Saint-Exupéry / Wolfgang Borchert / Reinhold Messner); Oft sind es auch Menschen, die versuchen, in dieser Welt Zonen der Befreiung zu schaffen. Wir verdanken ihnen neue mitmenschliche Verhaltensweisen, wie z.B. die Strategien des gewaltlosen Widerstands gegen das Böse (z.B. Martin Luther King / Mahatma Ghandi / Dalai Lama / Ernesto Cardenal / Helder Camara).
  • Durch das Leben und Vorbild der Heiligen; z.B. Bruder Franz / Bruder Benedikt / Bruder Klaus / Bruder Bernhard / Edith Stein[1].
  • Durch die Werke in Kunst (z.B. Ölbilder von Vincent van Gogh), Musik (z.B. Konzert von B.B. King) und Literatur (z.B. Briefe von V. v. Gogh an seinen Bruder Theo); Vor allen Dingen in Texten und Liedern, die sich aus Unterdrückung und Sklaverei heraus entwickelt haben (z.B. Gospels / Blues / Erzählungen / Biographien).
  • Durch die innere Stimme des Gewissens, die sich immer wieder mahnend, tadelnd oder anerkennend in uns zu Wort meldet („Tue das Gute, lasse das Böse“).
  • Durch d. persönliche Freiheitsgeschichte (Exoduserfahrung[2]) im Leben jedes Menschen.

Für mich persönlich war eine Lebenskrise vor 4 ½ Jahren tragend. In einer Situation, in der mir großes menschliches Unrecht widerfuhr – ich stand dem Tod näher als dem Leben – und gegen die ich mich nach innen und nach außen aufbäumte, wurde ich von einer mächtigen, kaum beschreibbaren geistigen Kraft durchdrungen (spätere Interpretation als Bekehrungserfahrung). Diese Kraft half mir dann, mich zunehmend mit den Waffen der Liebe Jesu Christi gegen die mir widerfahrenden menschlichen Niederträchtigkeiten und Bosheiten (z.B. Lügen, Verachtung, Missachtung, Ausgrenzung, Isolierung etc.) zu wehren. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals ergriffen und staunend das Johannes-Evangelium las und meditierte. Jahrelang hatte ich sehr viel Zeit Gott zu erfahren. Ich denke, es war eine Art von ‚Höhlenerfahrung‘, wie sie auch Bruder Benedikt von Nursia oder der Prophet Elia durchleben mussten. Immer mehr fühlte ich mich von Gott berührt und geliebt. Mein Vertrauen und meine Beziehung zu Gott wuchs so enorm, dass er mir die Bürde der Feindesliebe auflasten, und ich ihm gegenüber trotzdem große Dankbarkeit empfinden konnte. So erlebte ich Gott persönlich als wirklich und einzigartig befreiend. Nachdem er mir das Leben neu geschenkt hat versuche ich jetzt, aus einer natürlichen Dankbarkeit heraus in seiner wahren Liebe und nach seinen Weisungen zu leben.


[1] Ich nenne hier „Heilige“, die mir durch die Art und Weise ihrer Christusnachfolge sehr nahe stehen.

[2] „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32f).