Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MK 12,28-34
"Und einer der Schriftgelehrten, der hinzugekommen war, ihr Streitgespräch gehört hatte und sah, wie treffend er ihnen antwortete, fragte ihn: Welche Weisung ist die allererste? Da antwortete Jesus: Die erste ist: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einziger Herr. Und: Liebe den Herrn, deinen Gott, aus deinem ganzen Herzen und aus deinem ganzen Leben, aus deinem ganzen Sinnen und aus deiner ganzen Stärke! Eine zweite ist diese: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Größer als diese ist keine andere Weisung. Und es sprach der Schriftgelehrte zu ihm: Richtig, Lehrer! Der Wahrheit gemäß hast du gesprochen. Einziger ist er, und einen anderen außer ihm gibt es nicht. Und: Ihn lieben aus dem ganzen Herzen, aus dem ganzen Verstand und aus der ganzen Stärke. Und: Den Nächsten lieben wie sich selbst – weit überwiegt das alle Vollbrandopfer und Opfermahle. Als Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Nicht weit bist du vom Königtum Gottes. Da wagte niemand mehr, ihn zu befragen."
Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder in Christus Jesus,
schon wieder stellt ein Schriftgelehrter Jesus eine Frage: Welches Gebot ist das erste – das Wichtigste – von allen? Eine sehr ernst gemeinte und mehr als berechtigte Frage. Hatten doch die Juden damals, laut dem Gesetz des Mose (Tora), genau 613 Vorschriften – davon 365 Verbote und 248 Gebote – zu befolgen. Jede Minute, jede Stunde, jeden Tag, das ganze Jahr. Wurde auch nur eines – und war es noch so klein – nicht beachtet, galt in den Augen der Rabbis das Gesetz, und damit der Wille Gottes, als nicht erfüllt. Die Antwort Jesu heute dazu ist eindeutig. Er verweist zunächst auf das jüdische Glaubensbekenntnis aus dem Buch Deuteronomium (DTN 6, 2-6), wo steht: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft“. Israel wurde von Gott erwählt und berufen, und dafür musste es vor allem anderen, diesen Gott lieben.
Wie aber ist dies heute bei uns – Gott lieben? Ein Gott, der mir vielleicht mehr fremd als vertraut ist, den ich vielleicht gar nicht kenne? Ich kann doch nicht etwas lieben, das ich nicht kenne, oder woran ich mehr zweifle, als glaube. Wie also ist Gott für mich / für uns heute noch ahnbar, spürbar, erfahrbar, erkennbar? Dies ist die alles entscheidende Frage, auf die ich selbst auch nur ganz einfach und persönlich antworten kann. [1]
Meine tiefste Überzeugung ist, dass das Erfahrbar-werden Gottes ganz eng an den persönlichen Glauben und an das Vertrauen in Gott gebunden ist. In der von Gott geschenkten Freiheit kann der Mensch glauben – oder eben nicht. Um aber diesen Gott in seinen Dimensionen und Geheimnissen zu erfahren, um ihn zu spüren und vielleicht sogar als Kraftquelle zu erleben, ist es erstmal wichtig, sich möglichst mit allen Sinnen, mit allem, was das Mensch-sein ausmacht – mit Herz, Seele und Verstand – sich ihm gegenüber zu öffnen. Wahre Liebe sucht immer den Kontakt – mit dem/der Geliebten. Mir persönlich gelingt dies am besten in der Ruhe und Stille der Natur. Dort kann ich nicht nur seine Stimme hören, sondern dort ist er mir ganz nah. Wir gehen miteinander, reden miteinander und treffen auch immer alle Entscheidungen, vor allem die schwierigen, gemeinsam. Und wenn ich dann aus einsamen Regionen wieder zurückkomme in die Zivilisation, bin ich meist körperlich erschöpft. Aber – die Sehnsucht ist befriedigt. Der Geist gestärkt und klar – und damit auch wieder neu bereit für das Leben und die Herausforderungen des Alltags.
Dort versuche ich dann, diese wechselseitige Beziehung zwischen mir und Gott lebendig zu halten – im Gebet. Das Gebet zählt zu den unabdingbaren Äußerungen der persönlichen Liebe zu Gott. Bitten, Danken, Freud und Leid – alles darf ich ihm anvertrauen. Wer nicht mehr betet, hat Gott vergessen. Und wer vergessen wird, wird auch nicht mehr geliebt. Und selbst wenn dieser Fall - von mir aus betrachtet - eintritt, wie z.B. damals bei den Jüngern im Sturm auf dem See (MK 4,35-41), ist er trotzdem da und um mich bemüht.
Aber nicht nur die Ruhe und die Stille, sondern auch die Reinheit und die Schönheit der Schöpfung Gottes fasziniert mich. Die Blumen, der Wald, der Sternenhimmel, die Tiere, das Wasser und vor allem auch die Berge und die Sonne. "Gottes Liebe ist wie die Sonne - heißt es in dem schönen Lied - sie ist immer und überall da. Streck dich ihr entgegen, nimm sie in dich auf. Sie kann dich verändern, macht dein Leben neu.“ Auch das Eis und - völlig unspektakulär - die Steine faszinieren mich. Manchmal bringe ich einen mit, vom Gipfel, oder einfach nur einer der mir gefällt. Etwas ganz Seltenes und Besonderes – ein Stein mit der Form von einem Herz. Den schenke ich dann einem lieben Menschen, meistens meiner Frau, meiner Enkeltochter, oder – wie neulich – deren Mama Laura. Ich bot ihr auch einen wunderschönen Edelstein, einen Aquamarin an – aber – sie entschied sich für den kleinen, einfachen, von mir für sie aus den Bergen, mitgebrachten, Kalkstein. Sie verstehen!
Liebe Schwestern, liebe Brüder, Gott lieben, ist also das erste und wichtigste. Aber – ein zweites kommt hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Jesus verbindet hier das Gebot der Gottesliebe mit dem der Nächstenliebe und stellt sie beide an die erste Stelle. Leer ist also alle Liebe zu Gott, wenn davon nicht auch etwas auf den Mitmenschen ausstrahlt. Also - es kommt schon drauf an, auf mein Verhalten und meine Hilfsbereitschaft. Konkret - auf meine guten Taten. Der Nächste, das ist doch der, mit dem ich es gerade zu tun habe. Aber auch der Bedürftige, der Arme, der Hungernde, der Kranke, der Fremde, der Flüchtling, der Inhaftierte, ja, vielleicht sogar der Feind?
„Ein neues Gebot gebe ich euch“, sagt Jesus an anderer Stelle. „Liebt einander so, wie ich euch geliebt habe und bleibt in meiner Liebe, dann wird auch der Vater euch lieben“. Jesus kann das so sagen, weil er durch seine Worte und seine Taten und vor allem auch durch sein Selbstopfer dieses größte Gebot in vollkommener Weise erfüllt hat. Dem Willen des Vaters gehorsam - zum Heil der Welt. "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt". Und wenn dann jemand sein ganz persönliches Leid, sei es Demütigung, Niederlage, Ungerechtigkeit oder Schmerz, mit dem von Jesus Christus verbinden kann – m.a.W. darin einen tieferen Sinn bzw. den Willen Gottes erkennen kann – dann werden ihm durch seinen Geist ungeahnte Kräfte und Fähigkeiten zufließen. Dann wird er nicht nur diese Krise überwinden, sondern als ‚neuer Mensch‘ gestärkt an Leib und Seele, zu neuem Leben berufen. Er wird auch spüren, dass man Würde und Ansehen nicht so sehr von den Menschen, als vielmehr von Gott erhält. Genau diese Erfahrung habe ich selbst gemacht – und genau deshalb bin ich auch Diakon geworden.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
„Wie Gott mir - so ich Dir“, ist ein guter Leitspruch für unser Leben - aber auch der unseres Erzbischofs Stephan „Christus in Cordibus - Christus in den Herzen“. Denn wer Christus im Herzen trägt, der ist ganz sicher auf dem rechten Weg. Amen.
[1] Zu dieser Frage, wie können wir heute Gott begegnen, habe ich im Jahr 2000 – im Rahmen einer theologischen Arbeit – meine ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken aufgeschrieben und vor einigen Jahren auf dieser Homepage mit heute etwa 750 Webseiten veröffentlicht. Seither ist es die, mit Abstand täglich am häufigsten besuchte Seite - Gotteserfahrungen heute - was zumindest aufzeigt, dass die Menschen – quer durch alle Altersgruppen – neugierig darauf sind, wie man, gerade in heutiger Zeit, Gott begegnen kann.