Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MK 6,1b-6
"Und er (Jesus) kommt in seine Vaterstadt und seine Jünger folgten ihm. Als Sabbat war, fing er an, in der Synagoge zu lehren. Und viele, die zuhörten, waren bestürzt und sagten: Wo der das herhat? Und: was ist das schon für eine Weisheit, die dem da gegeben ist? Und: Solch Krafttaten sollen durch seine Hände geschehen? Ist das nicht der Handwerker, der Sohn Marias, der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Und sind seine Schwestern nicht hier bei uns? So nahmen sie Ärgernis an ihm. Jesus sagte zu ihnen: Verachtet ist ein Prophet nur in seiner Vaterstadt, bei seinen Stammesgenossen und im eigenen Haus. Und er vermochte dort nicht eine einzige Krafttat zu wirken – außer dass er einige Kranke heil machte, indem er ihnen die Hände auflegte. Und er staunte ihres Unglaubens wegen."
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,
in jener Zeit kam Jesus in seine Heimatstadt. Nazareth, im Hügelland von Galiläa liegend, war damals ein kleines, unbedeutendes Dorf. Jeder kannte jeden. Die Menschen von Nazareth – sie hatten eine Menge von Jesus gehört. Seine Begabung, sein Auftreten, seine religiöse Kompetenz, seine Weisheit – sogar Wunder soll er gewirkt haben. Sie waren richtig gespannt und neugierig auf ihn. „Jesus – das ist doch einer von uns – den kennen wir doch. Der hat doch fast dreißig Jahre bei uns – und mit uns – gelebt. Das ist doch der Zimmermann, der Sohn der Maria, der Bruder von Jakob, Joses, Judas und Simon. Und seine Schwestern wohnen doch auch hier unter uns. Jetzt ist er wieder daheim. Heute Abend – es ist Sabbat – werden wir ihn bestimmt sehen, beim Gottesdienst in der Synagoge. Diesen Jesus – den kennen wir.“
Jesus war noch ein kleines Kind, höchstens ein bis zwei Jahre alt, als sie damals aus Ägypten – Herodes, der Grund ihrer Flucht, war tot – in die alte Heimat übersiedelten. „Unsere Kinder – sie haben doch zusammen gespielt, und die Schafe gehütet, und hohe Steinmänner gebaut, und ab und zu auch heftig miteinander gestritten.“ Doch Jesus musste schon in jungen Jahren, gemäß dem jüdischem Brauch, seinem Papa tüchtig bei der Arbeit helfen. Der war Zimmermann und die große Familie musste ja versorgt bzw. ernährt werden. So einfach war das aber nicht – jeder kämpfte ums Überleben. Josef und Jesus arbeiteten viel gemeinsam. Sie machten z. B. Betten, Tische, Stühle und Werkzeuge für die Bauern. Sogar eine Hütte aus Lehm konnten sie bauen. Und wenn’s notwendig war, reparierten sie auch mal eine Tür oder ein Dach. Oft hat Josef abends, wenn sie alle zusammen saßen, die Geschichte des Auszugs aus Ägypten, und von Gottes Liebe und Treue zu seinem Volk erzählt. Nur schade, dass er – Jesus war noch jung – so früh gestorben ist.
Am Sabbat ging man selbstverständlich zum Gottesdienst in die Synagoge. Es wurden Psalmen gesungen, es wurde gebetet und aus der Thora vorgelesen. Nach den Lesungen wurde den Zuhörern von den Schriftgelehrten die Bedeutung des Wortes Gottes ausgelegt. Die Synagoge war aber nicht nur gottesdienstlicher Versammlungsraum, sondern auch Zentrum der Erziehung – lernen und studieren – und Zentrum des sozialen Lebens – sich versammeln und sich unterhalten. Hierher kam auch Jesus mit seinen Freunden regelmäßig, um die Heiligen Schriften zu lesen und zu studieren. Hier lernte er auch Hebräisch, denn die Umgangssprache war Aramäisch. Redebegabt war er damals schon. Und irgendwie spürte er auch, dass Gott ihn noch zu einer ganz anderen Aufgabe berufen wird.
Denn – bereits im Alter von 12 Jahren musste er seinen Eltern erklären, dass er im Tempel zurückgeblieben sei, weil er in dem sein musste, was seines Vaters ist. Jesus war also in seinem gesamten Fühlen, Denken und Handeln zunächst einmal ganz Mensch – bescheiden, einfach, alltäglich. Deshalb dürfen auch wir im Glauben an die Person Jesus Christus, Gott in der Einfachheit und Alltäglichkeit unseres Lebens, immer wieder neu begegnen und erfahren.
Und als sie ihm jetzt in der Synagoge zuhören, sind sie von seiner Rede so betroffen, dass es Ihnen – im buchstäblichen Sinn des Wortes – die Sprache verschlägt. Und dies, obwohl sie seine zentrale Botschaft eigentlich schon lange kennen. Gott liebt alle Menschen gleich – er bietet jedem Menschen Heilung und Vergebung an. Nicht die Starken brauchen den Arzt, sondern die Kranken. „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“. Dann reicht man Jesus die Schriftrolle des Propheten Jesaja. Er liest vor, aus dem 61. Kapitel, wo Gott verspricht, eines Tages den Messias zu senden. „Der Geist Gottes ruht auf mir. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe“, und – er bezeichnet sich selbst als den von Gott verheißenen Messias, den Sohn Gottes. „Heute hat sich dieses Schriftwort an mir erfüllt.“
Mit diesem unvorstellbaren Anspruch schockierte Jesus seine Zuhörer. So etwas hatten sie noch nicht erlebt. Das war dann doch des Guten zu viel – einfach unzumutbar – einfach unerträglich – ja, gotteslästerlich. Gottes Sohn soll offenbar werden – nur als Mensch – als einfacher Mensch – in diesem Zimmermannssohn? Unvorstellbar! „Wie kommt dieser Schreiner aus unserem Dorf überhaupt dazu, so im Namen Gottes zu uns zu reden? Der ist doch verrückt – der spinnt.“ Jetzt aber schlug die Stimmung um. Der Widerstand gegen Jesus wuchs. Manche der Leute hassten ihn und wollten ihn töten. Tatsächlich aber warteten die Juden seit vielen Jahren auf den Messias. Einen Boten Gottes, der das Volk in die Freiheit führen sollte. Unter Freiheit verstanden sie die Befreiung von der römischen Herrschaft. Viele Menschen hatten also gehofft, Jesus würde sie von den Römern befreien. Als sie dann aber erkannten, dass Jesus nicht an militärischer Macht interessiert war, waren sie umso mehr verbittert. Er war nicht der Messias, den sie erwartet hatten. Die Mehrzahl der Juden glaubte auch, dass allein sie, das auserwählte Volk Gottes seien. Jesus aber lehrte, dass Gott auch die Nichtjuden, die Heiden liebte, und erlösen will. Selbst die religiösen Führer, die Pharisäer und Sadduzäer, klagten Jesus an, und lehnten seine Lehre rigoros ab.
Doch Jesus ging, davon unbeirrt, seinen Weg weiter. Was die Menschen brauchten, war nicht die Befreiung von den Römern, sondern die viel radikalere Befreiung aus dem Teufelskreis von Sünde und Tod. Sie brauchten einen neuen Anfang, eine neue Lebensart, eine Neuschöpfung des ganzen Menschen.
Schauen wir noch einmal auf die Familie Jesu. Wie verhielt die sich? Im dritten Kapitel des Markusevangeliums kommen die Mutter Jesu und seine Brüder zu dem Haus in Kafarnaum – neben Magdala und Betsaida das Zentrum seines Wirkens – in dem Jesus sich aufhielt, um ihn herauszurufen, ihn zur Vernunft zu bringen und auf den Weg ‚bürgerlicher Normalität‘ zurückzuholen. Jesus aber sagte zu ihnen: „Jeder, der den Willen meines Vaters tut, ist mir Bruder, Schwester und Mutter.“ Wie nah ist er ihnen gewesen – und wie fremd ist er ihnen geworden? Auch die Seinen – seine eigene Familie – sie lehnten ihn ab. Auch sie verstanden ihn – nicht mehr. Und wie sehr hätte Jesus den Beistand der Seinen gerade jetzt in der Synagoge gebraucht? Wie einsam, wie verlassen, wie enttäuscht musste er gewesen sein? Familie und Sippe ist eben nicht immer nur Geborgenheit und Heimat, sondern manchmal auch Last und Hemmnis. Selbst die Verwandten Jesu sind erst allmählich in das Geheimnis seiner Sendung und Person sozusagen ‚hinein gereift‘. Einem großen Teil der Brüder und Schwestern Jesu ging erst nach seiner Auferstehung ein Licht auf.
Liebe Mitchristen,
den kennen wir schon, so hieß es am Anfang. Die entscheidende Frage für mich heute ist, ob wir, die wir mit ihm gehen, ihn – Jesus von Nazareth – auch wirklich kennen. In ihm hat Gott einen Menschen berufen und in besonderer Weise mit Vollmachten ausgestattet. Auch jeden von uns stattet er mit eigenen Begabungen und Fähigkeiten aus. Gott kann jederzeit auch unser Leben umstülpen, ihm eine andere Richtung geben. Hierbei will er gerade die inneren Möglichkeiten unseres Lebens, die geistig-emotionalen Fähigkeiten wie z. B. Glaube, Hoffnung, Vertrauen, Liebe, Gebet ansprechen und entwickeln – auch wenn dies von Anderen manchmal nicht gesehen, oder nur schwer akzeptiert wird. Diese von Gott geschenkten Gaben wahrnehmen, sie anerkennen, sie entfalten – um sie dann für die Menschen und das Leben in der Gemeinde einzusetzen – hierin liegt, in der Nachfolge Jesu Christi stehend, auch unsere ganz persönliche Berufung. Amen.