15 Effata


Aufblickend zum Himmel sagte er EFFATA

Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MK 7,31-37

 

"Abermals kam er, aus dem Gebiet von Tyrus kommend durch Sidon, an den See von Galiläa, mitten ins Zehnstädteland. Und sie bringen ihm einen Taubstummen und Halbstummen und ermutigen ihn, dass er ihm die Hand auflege. Nachdem er ihn von den Leuten weg abseits genommen hatte, steckte er die Finger in seine Ohren, spuckte und hielt seine Zunge fest. Und aufblickend zum Himmel stöhnte er auf, und sagt zu ihm: Effata! Das heißt: Öffne dich! Und gleich ward geöffnet sein Gehör und gelöst die Fessel seiner Zunge, und er redete richtig. Dann mahnte er sie, es keinem zu sagen. Aber so sehr er sie mahnte: Sie verkündeten es nur um so mehr. Und bestürzt waren sie über die Maßen und sagten: Gut hat er alles gemacht. Die Tauben macht er hören und die Stummen reden."


Predigt im Jahreskreis 2009


Gehörlose

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

blindtaubstumm – auch heute noch das Schicksal vieler Jugendlicher und Kinder, mit denen ich beruflich, als Krankenpfleger im HNO-OP der Universitätsklinik in Freiburg, jeden Tag zusammenkomme. Kommunikation ist nicht mehr – oder nur noch sehr eingeschränkt – mittels Mimik und Gestik möglich. Letzte Woche kam Anna zur Cochlear-Implant-OP; ein Eingriff, der ganz einfach gesagt, das Hören wieder ermöglicht. Ein vierzehn Jahre junges, hübsches und aufgewecktes Mädchen. Ihr Lieblingsberuf ist Fremdsprachenpädagogin - das will sie unbedingt einmal werden. Wie soll aber dies, wenn man nicht hören und nicht reden kann, gelingen? Um es vorwegzunehmen; Unendlich viel Geduld und Zuwendung wird es kosten – aber – alle glauben daran und wünschen den Erfolg. Die Logopäden, die Techniker, die Chirurgen, die Psychologen, die Pädagogen und auch ich. Das aber Entscheidende und Wichtigste ist: Denise glaubt selbst ganz fest daran. Sie ist willensstark und hoch motiviert. Sie wird alles in ihren Kräften-stehende tun, um Schritt für Schritt das ‚neue Hören‘ mit dem Implantat, und das damit verknüpfte Sprechen und Sich ausdrücken, zu erlernen.

Ganz oft aber liegt das Nicht-hören und Nicht-reden-können noch viel tiefer. So kann es zum Beispiel passieren, dass wenn ein Paar sich trennt, man nicht mehr aufeinander hört oder miteinander spricht. Nicht selten werden dann auch die Kinder hin und her geschoben und von beiden Seiten für Rachefeldzüge benutzt. Verbitterung und Hass graben sich immer tiefer ein, bis in so einer Familie kein offenes Wort mehr möglich ist. Es ist ein langer und mühsamer Prozess, dann die Sprache füreinander wieder zu finden. Wie bei Anna müssen auch in solch einer Situation Worte neu gelernt werden. Worte des Vertrauens, des Sich-trauens, des Sich-über-den-Weg-trauens – trotz aller Verletzungen. Vorurteile, gespeist aus irgendwelchen Erfahrungen, oder vom Hörensagen, graben sich manchmal tief in unser Gedächtnis ein. Sie machen misstrauisch gegenüber dem, der anders ist, mit anderer Hautfarbe vielleicht, mit anderem Aussehen oder anderen Lebensgewohnheiten. Sie verhindern, dass man offen auf den anderen zugeht – treiben ihn möglicherweise gar in die Isolation. Deshalb ist es schwer, hinter einer Mauer von Vorurteilen einen Menschen neu sehen zu lernen. Es macht Mühe, an einer solchen Mauer zu kratzen und jemandem offener gegenüberzutreten.

Auch im heutigen Evangelium begegnet uns einer, der nicht hören und nicht reden kann. Er lernt es erst wieder, als Jesus sich ihm zuwendet – seine verschlossenen Ohren und seinen verschlossenen Mund berührt. „EFFATA“ heißt wörtlich übersetzt: Tu dich auf – Öffne dich. Jesus sagt es und blickt zum Himmel, denn aus eigener Kraft ist auch ihm Heilung nicht möglich. Wer sehen, reden und hören wieder neu lernen will, braucht nicht nur die Zuwendung eines anderen Menschen – er braucht dazu auch den Zuspruch Gottes. Seine Liebe schenkt Leben – seine Zuwendung ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden. EFFATA – Öffne dich – das ist die frohe Botschaft des heutigen Tages – für dich und mich. Aber so befreiend sie auch ist – so schwierig ist sie umzusetzen. Denn Geöffnet-sein kostet Kraft und Überwindung – erfordert Empathie und Liebe. Geöffnet-sein macht auch angreifbar und verletzlich. Wer mehr Offenheit wagen will, kann sich das bei Jesu, so wie er den Menschen begegnet, abschauen. Wie er zum Beispiel der Ehebrecherin begegnet, oder dem Zachäus oder den Kranken und Kindern. Wer mehr Offenheit wagen will, sollte sich auch bewusst sein, dass es immer wieder neu Mühe kostet, auf andere zuzugehen, ihre Bedürfnisse zu erspüren, und dabei mit den eigenen Grenzen gut umzugehen.

Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

wieder neudas Leben lernen‘, oder – wieder etwas mehr ‚das Leben wagen‘, das ist Jesu Auftrag heute an uns. Das mutet er uns zu. Die Geschichte von Anna zeigt, dass es möglich ist, auch dann, wenn die Situation hoffnungslos erscheint. Amen.